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Rezension

„Mein Großvater hätte mich erschossen“ von Jennifer Teege und Nikola Sellmair

rezensiert von Janik Wilhelm, 12. Klasse Lichtenbergschule, Darmstadt

Schuld – ein Begriff, der untrennbar mit der deutschen Geschichte verknüpft ist. Tragen wir die Schuld für das Handeln unserer Vorfahren im „Dritten Reich“? Was war die Rolle unserer Großeltern während des Zweiten Weltkriegs? Wussten sie von den Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden? Haben sie diese geduldet, vielleicht sogar aktiv daran mitgewirkt? Solche Fragen sind es, mit denen vor allem wir Deutschen häufig konfrontiert werden.

Jennifer Teege, Tochter eines nigerianischen Einwanderers und einer Deutschen, wurde auf außergewöhnlich unsanfte Weise mit ihrer persönlichen Familiengeschichte konfrontiert. Als Enkelin des KZ-Kommandanten Amon Göth, narzisstischer Befehlshaber des Arbeits- und späteren Konzentrationslagers Płaszów, lebte sie plötzlich mit der bedrückenden Last ihrer Herkunft. Den Weg ihrer langjährigen Vergangenheitsbewältigung schrieb sie nieder in der Autobiographie „Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen“. Bereits der Titel verrät einen entscheidenden Konflikt des autobiographischen Werks: Darf ich meine Großeltern lieben trotz der von ihnen begangenen Taten?

Jennifer Teege lebt in Hamburg. Sie arbeitet in einer Werbeagentur, ist verheiratet, hat zwei Söhne. Äußerlich erscheint ihr Leben makellos, und doch leidet sie an einer permanenten, ungeklärten Traurigkeit – zwischenzeitlich lässt sie sich wegen Depressionen psychologisch behandeln. Wiederholt kehrt Jennifer bei der Ursachenforschung zu ihrer ungeklärten Herkunft zurück, zu ihrer Adoption und dem fehlenden Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter. Eines Tages stöbert Jennifer Teege in der Hamburger Zentralbücherei. Gedankenlos überfliegt sie das Cover eines rot eingebundenen Buches: „Die Lebensgeschichte von Monika Göth, Tochter des KZ-Kommandanten aus ‚Schindlers Liste‘“ – Göth, das ist der Nachname ihrer Mutter; der Name, den Jennifer Teege bei ihrer Adoption mit sieben Jahren ablegte. Nun hatte sie also – mit 38 Jahren – erfahren, wer sie war. Dies geschah im Jahr 2008; im Jahr 2013 erschien das Werk „Amon“. Dazwischen lagen fünf Jahre, in denen Jennifer Teege dieses eine Ereignis verarbeitete und ihr bisheriges Leben in Frage stellte.

Bekannt ist Göth heute vor allem als Vorbild für den Antagonisten im Film „Schindlers Liste“; dort sieht man Amon Göth, gespielt von Ralph Fiennes, als er vom Balkon seiner Villa wahllos auf Häftlinge des nahegelegenen Arbeitslagers Płaszów schießt – zum Spaß. Geboren wurde Amon Göth, alias Mony, in Wien, seine Eltern betätigten sich in der Verlagsbranche. Früh besuchte Göth ein Internat, jedoch brach er seine Schulausbildung nach der zehnten Klasse ab. Zu dieser Zeit begann bereits der Aufstieg der Nationalsozialisten, und so folgte auch der Aufstieg Amon Göths. 1931 der NSDAP und der SS beigetreten avancierte Göth mithilfe von Brutalität und absolutem Gehorsam innerhalb weniger Jahre zum Vorzeigeoffizier Hitlers. Als Mitglied der Waffen-SS in Polen erwarb er sich schließlich als KZ-Kommandeur den Ruf als „Schlächter von Płaszów“. Zudem beteiligte er sich an der Räumung des Krakauer Ghettos. In Polen lernte Göth darüber hinaus die Sekretärin Ruth Irene Kader kennen. Gemeinsam bezogen sie eine stattliche Villa, die an das KZ Płaszów grenzte. Ruth Irene Kader bewunderte und liebte Göth, einen skrupellosen Massenmörder. Im Jahr 1946 wurde der Kriegsverbrecher Göth am Galgen gehängt. Bis zu ihrem Tod schwärmte seine Geliebte in Liebe von dem Charmeur Göth. Für den Leser mag Ruth Irene die herzkalte Frau eines Nazis gewesen sein, eine Frau unter vielen. Für Jennifer Teege jedoch war sie nebenbei auch ihre geliebte, fürsorgliche Großmutter. Hier liegt eine treibende Problematik der Autobiographie.

2008 erfährt Jennifer Teege von ihrer Geschichte, und stellt ihre Lebensweise in Frage. Durfte sie noch ihre Großmutter lieben, die Geliebte des wohl bekanntesten KZ- Kommandanten der Welt? War ihre Familiengeschichte der Grund, dass ihre Mutter sie ins Heim abgeschoben hatte? Würde sie jemals wieder ihre israelischen Freunde ohne diese drückende Schuld ansehen können? Fünf Jahre verbrachte Teege mit der Suche nach ihrer Identität, traf ihre Mutter und Halbschwester, ihren nigerianischen Vater, ihre Freunde in Israel, stellte die Beziehung zu ihren Adoptiveltern in Frage. Auf 272 Seiten stellt sich Teege ihrer Geschichte und beweist dabei eine bewundernswerte Stärke und Größe.

Der Schreibstil Jennifer Teeges überzeugt besonders durch seine Authentizität und Nähe zur Protagonistin. Andererseits ist Jennifer Teege ebenfalls in der Lage, ihre Taten zu reflektieren und distanziert ihr Handeln zu hinterfragen. Zwar besticht Teeges Werk nicht durch seine Rhetorik, doch erleichtert die einfache Sprache auch das Verständnis der Autobiographie. Unterstützt wird der Leser außerdem durch die historischen Ausführungen der stern-Redakteurin Nikola Sellmair; diese stellt Hintergrundinformationen zur Verfügung, die es auch Laien ermöglichen, die historischen Grundlagen des Werks nachzuvollziehen.

Dennoch stelle ich nach dem Lesen fest, dass „Amon“ nicht als historisches Werk über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen dienen kann; es ist auch kein spannender Roman. Vielmehr ist „Amon“ ein Zeugnis weniger der politischen, sondern eher der generationenübergreifenden, psychologischen und emotionalen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Jennifer Teege wagt und bewältigt souverän den Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und beweist in beeindruckender Weise, wie direkt uns die Geschichte unseres Landes heute betrifft. Zudem verknüpft der Roman die Schicksale der Opfer und Täter und setzt damit ein wichtiges Plädoyer, lang gepflegte Gräben zuzuschütten und Vergangenes offen aufzuklären, anstatt es in Lügen und Vorurteilen zu begraben.


Text von Lea Fuhrbach, 7. Klasse Lichtenbergschule Darmstadt

geschrieben am: 7. April 2015 unter der Betreuung von Margit Sachse

veröffentlicht auf Lesepunkte.de